Apologie des Sokrates
nach 399 v. Chr.
Inhalt
Im Alter von 70 Jahren steht der berühmt-berüchtigte "Straßen-Lehrer" Sokrates erstmals vor Gericht – als Angeklagter. Nach einhelliger Überlieferung lautete die Anklage:
[…] gegen Sokrates, den Sohn des Sophroniskos aus Alopeke: Sokrates handelt rechtswidrig, indem er die Götter, die der Staat anerkennt, nicht anerkennt und andere, neuartige dämonische [göttliche] Wesen einzuführen sucht; er handelt außerdem rechtswidrig, indem er die jungen Leute verdirbt. Strafantrag: der Tod. — Platon: Apologie des Sokrates 24b / Xenophon: Erinnerungen an Sokrates 1,1,1 / Xenophon: Apologie des Sokrates 10 / u.a.
Die Apologie des Sokrates ist Sokrates' Verteidigungsrede, verfasst von seinem langjährigen Schüler und "Nachfolger" Platon, der diesem Asebie-Prozess (Prozess wegen Gottlosigkeit) gewiss beigewohnt hat. Ebenso gewiss ist auch, dass Platon mit diesem Text kein rasch mitgeschriebenes Gerichtsprotokoll hinterlassen hat, sondern einen ausgefeilten Monolog, der seinen (lesekundigen) Zeitgenossen und der Nachwelt die Haltung und Lebensweise dieses exzentrischen Philosophen näherbringen sollte.
Wer – wie Sokrates seinen Anklägern zumindest unterstellt – eine wortgewaltige Flammenrede mit allen (schon damals üblichen) Finessen erwartet, wird enttäuscht. Der Greis verzichtet auf Worttrixerei ebenso wie auf jegliche Mitleidsmasche (wie z.B. den üblichen Verweis auf die weinendene Familienangehörigen). Ihm ist es wichtig, sich auch in dieser außerordentlich prekären Situation unverfälscht zu präsentieren – und geht damit bewusst das Risiko ein, auf das Gericht so überheblich, herausfordernd und besserwisserisch wie immer zu wirken.
Gliederung
Die Rede gliedert sich dem Verhandlungsverlauf entsprechend in drei Teile: dem eigentlichen Plädoyer, dem Strafantrag nach dem Schuldspruch und schließlich den Abschiedsworten nach Verkündigung der Todesstrafe.
Die öffentliche Meinung
Im ersten Teil der Rede verweist Sokrates auf das langjährige Missverständnis und Zerrbild, das die Öffentlichkeit von ihm habe. Bekannte Komödienschreiber – hier ist wohl vorallem Aristophanes mit seiner Komödie Die Wolken gemeint – und (namentlich) Unbekannte haben mit Unwahrheiten Stimmung gegen ihn gemacht:
… da sei ein gewisser Sokrates, ein weiser Mann, der über die Himmelserscheinungen nachdenke und alles Unterirdische erforsche und die schwächere Rede zur stärken mache. — Platon: Apologie des Sokrates 18b [Ü: Manfred Fuhrmann]
Der erste Vorwurf rückt Sokrates in die Nähe jener Denker und Philosophen, die – als Vorläufer der Naturwissenschafter – über die Natur(phänomene) und die Beschaffenheit der Welt (laut) nachdachten und sich damit auf ein Terrain wagten, das bislang allein der Religion und den Göttern vorbehalten geblieben war. Womit sie sich dem gefährlichen Verdacht aussetzten, die Götter zu verleugnen.
Der zweite Vorwurf macht Sokrates zum Erz-Sophisten, zum sprachgewandten Wortverdreher, der – meist für bares Geld – die argumentativ schwächere Rede zur überlegenen machen kann; d.h.: die geschickte Rhetorik triumphiert letzlich über "Tatsachen", wodurch letztlich alles in Frage gestellt werden kann.
Hand in Hand mit den radikalen Demagogen der attischen Politik waren die Sophisten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts für viele Athener zum Ärgernis geworden. Sokrates mit seiner Art des ständigen Nachfragens und In-Zweifel-Ziehens erschien dabei wie der mustergültige Sophist.
Der Orakelspruch
Sokrates versucht dann, seine Sicht zu erklären, was es mit seiner Weisheit und seinem Lehren auf sich hat, und wie er zu seinem schlechten Ruf gekommen ist.
Denn für meine Weisheit – wenn es sie gibt und was immer daran ist – kann ich euch als Zeugen den Gott in Delphi [Apollon] nennen.
[…] Ja, und als er [sein Jugendfreund Chairephon] nun einmal nach Delphi kam, da scheute er sich nicht, das Orakel zu befragen […] – er fragte also, ob wohl jemand weiser sei als ich. Da gab ihm die Pythia [die Priesterin, die das Orakel verkündete] den Bescheid, niemand sei weiser. Und das wird euch sein Bruder – dort ist er – bezeugen; er selbst ist ja gestorben. — Platon: Apologie des Sokrates 20e–21a
Dieser Orakelspruch irritierte Sokrates:
Was mag der Gott wohl meinen, und was gibt er mir da für ein Rätsel auf? Ich weiß nämlich ganz genau, daß ich nicht weise bin, weder viel noch wenig. — Platon: Apologie des Sokrates 21b
Also machte sich Sokrates daran, den Spruch zu widerlegen, indem er Leute aufsuchte, die im Ruf standen, weise zu sein, und sich mit ihnen unterhielt, um zu prüfen, ob diese weiser sind. Doch jedes Mal gewann er den Eindruck, dass sie nur – sich und den anderen – weise schienen, ohne es tatsächlich zu sein.
Offenbar bin ich im Vergleich zu diesem Mann um eine Kleinigkeit weiser, eben darum, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube. — Platon: Apologie des Sokrates 21d
Und so wandte sich Sokrates an Politiker, Dichter, Handwerker und viele andere – immer im Bestreben den Orakelspruch des Apollon zu widerlegen. Daraus ergaben sich viele Feindschaften und gleichzeitig entstand das Missverständnis, Sokrates würde mehr von jenen Dingen verstehen, weise sein, nach denen er all die anderen fragte.
Er selbst erklärt sich den Orakelspruch so:
So scheint denn, ihr Männer, allein der Gott wahrhaft weise zu sein und mit seinem Orakelspruch eben dies zu meinen, daß die menschliche Weisheit nur wenig wert ist oder rein nichts. Und offenbar deutet er in diesem Sinne auf den Sokrates hin, wobei er meinen Namen nur nebenbei nennt, indem er mich als Beispiel verwendet – als ob er sagen wollte: "Der, ihr Menschen, ist unter euch der weiseste, der wie Sokrates erkannt hat, daß er, recht betrachtet, nichts wert ist, was seine Weisheit betrifft." — Platon: Apologie des Sokrates 23a/b
Sokrates selbst sieht sich als Gehilfe des Gottes, führt seine Untersuchungen fort und zeigt seinen Gesprächspartnern, dass sie – entgegen ihr eigenen (ursprünglichen) Meinung – eben sich wirklich weise sind. Einige würden deshalb gegen ihn auftreten – darunter eben auch die Ankläger Meletos, Anytos und Lykon.
Anklage und Verteidigung
Erst nach dieser Erklärung zu den Ursachen jener – seiner Meinung nach – jahrelangen Kampagne gegen ihn, wendet sich Sokrates in seiner Verteidigung der eigentlichen Anklage in diesem Prozess zu. Und geht sogleich zum Gegenangriff über:
Ich aber behaupte, ihr Männer von Athen, daß Meletos rechtswidrig handelt, weil er sich in einer ernsthaften Sache einen Scherz erlaubt, indem er leichtfertig Leute vor Gericht bringt und sich stellt, als sei er der Hüter und Wächter von Dingen, um die er sich zeit seines Lebens noch nie gekümmert hat … — Platon: Apologie des Sokrates 24c
An dieser Stelle hält es Sokrates (bzw. Platon) für angebracht, dem Gericht eine Kostprobe seiner Art der Gesprächsführung und Argumentation zu verabreichen. Es darf bezweifelt werden, dass diese "Verteidigungsstrategie" ihm, dem Angeklagten, geholfen haben könnte; doch Sokrates (bzw. Platon) ging es eben darum, vor Gericht nicht anders zu erscheinen als er eben wahrhaftig war. Sokrates empfand sein Leben und Wirken als Auftrag des Gottes Apollon und verharrte in der ihm aufgetragenen Stellung auch im Angesicht des Todes, ganz wie einst im Krieg bei Potidaia, Amphipolis und Delion, wie er selbst sagt (28e). Angst vor dem Tod (zu zeigen) ist für ihn ein lächerliches und schändliches Verhalten, das zudem auch Athen Unehre brächte.
Strafantrag
Nach der Verkündigung des – wie Sokrates bzw. Platon betonen: überraschend knappen – Schuldspruchs, hatten die Ankläger das Todesurteil verlangt. In seinem Gegenantrag gibt sich Sokrates so kämpferisch wie bisher:
Wenn ich also etwas Angemessenes beantragen soll, wie es recht und billig ist, dann beantrage ich dies: einen Freitisch im Prytaneion. — Platon: Apologie des Sokrates 36e/37a
Das wäre freilich keine Strafe, sondern eine Auszeichnung gewesen: Im Amtsgebäude der Ratsherrn, der Prytanen, durften ansonsten nur Ehrengäste wie z. B. Sieger bei den Spielen in Olympia (auf Staatskosten) speisen.
Sokrates erklärt diesen vermeindlichen Witz, indem er anschließend alle anderen denkbaren Strafen – Todesstrafe, Gefängnis, Verbannung (die übliche Strafe in Asebie-Prozessen), Geldbuße – durchgeht und verwirft, sei es wegen seines Alters oder seiner Mittellosigkeit.
Abschied
Am Ende der Rede – das Todesurteil ist verkündet – beteuert Sokrates nochmals, keine Angst vor dem Tod zu haben. Mehr noch:
Und ich gebe mich mit diesem Urteil zufrieden, genau wie sie [die Richter]. Das hat wohl so kommen sollen, und ich glaube, daß es gut so ist. — Platon: Apologie des Sokrates 39b
Dennoch prophezeit er seinen Richtern das Misslingen ihrer eigentlichen Absicht. Es werden andere an Sokrates' Stelle treten, jüngere und hartnäckigere Mahner und Ermahner. (Hier blickt Platon wohl auf sich und seine Schüler).
Dann geht der zum Tode Verurteilte auf die Frage des Sterbens (im Allgemeinen) ein, wobei Sokrates ausreichend Grund zur Hoffnung sieht:
Denn von zwei Dingen kann das Sterben nur eines sein; entweder nämlich ist es eine Art Nichtsein, so daß der Verstorbene auch keinerlei Empfindung mehr von irgend etwas hat, oder es findet, wie ja behauptet wird, eine Art Übergang und Übersiedlung der Seele statt: von dem Orte hier an einen anderen Ort. — Platon: Apologie des Sokrates 40c
Seine Überlegungen enden mit einer ungewöhnlichen Bitte an die Richter: Sollten seine Söhne in Zukunft Nutzlosem (wie z. B. Geld) mehr Beachtung schenken als dem Streben nach Tugendhaftigkeit, sollen sie diesen hartnäckiger zusetzen als er ihnen.
Kritik
Mit der Apologie des Sokrates hat Platon zweierlei Ziele errreicht: Zum Einen hat der der Nachwelt ein lebendiges Bild seines Lehrers und dessen damaligen, öffentlichen Ansehens hinterlassen (mit einigen Details aus Sokrates' privaten Leben). Hier steht – deutlicher und mehr als in allen anderen Schriften Platons – die Person Sokrates im Mittelpunkt.
Zweitens hat Platon diesen Anlass als Exempel genutzt, mit welcher Konsequenz – seiner Meinung nach – ein der Wahrheit und Tugend verpflichtetes Leben auszusehen hat. Für Sokrates und Platon gibt es kein Grund und keine Situation, die ein angepasstes Verhalten, ein Abweichen rechtfertigt. Nicht einmal wenn das eigene Leben bedroht ist.
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