Ingo Müller

Furchtbare Juristen
Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz

Sachbuch, 1992

Ein erschütterndes Buch über die Geschichte des deutschen Justizappartes vom Vormärz bis in die 1980er-Jahre.

Viel zu unbekannt ist – noch immer – das Wirken der deutschen Richter und Staatanwälte unter dem Hakenkreuz und in der Nachkriegszeit (von den österreichischen ganz zu schweigen!). Wohl auch, weil sich die Originalaufnahmen speziell aus der NS-Zeit publikumswirksamer in unzähligen "Dokumentationen" vermarkten äh ... verarbeiten lassen, als Gerichtsurteile und Biographien diverser Personen aus der scheinbar zweiten und dritten Reihe. Doch es ist auch bequemer und quotenförderlich zum x-ten Mal die Perfidie und Menschenverachtung usw. des NS-Regimes und der "Größen" des III. Reiches anzuprangern, als das Verhalten der Befehlsempfänger(?), Mitläufer(?) etc. zu thematisieren.

Ingo Müller, der an deutschen Universitäten Öffentliches Recht und Strafrecht unterrichtet hat, bildet mit diesem Buch eine rühmliche Ausnahme; er dokumentiert, die "Rechtslastigkeit" der deutschen Justiz vor 1933; wie diese den immensen Spielraum, den ihnen die NS-Gesetzgebung (bewußt) gelassen hat, bereitwillig(st) genutzt hat; und schließlich: wie praktisch dieselben Personen nach 1945 sich selbst verteidigt und gegenseitig freigesprochen haben, während das begangene Unrecht ungesühnt und die Opfer oft nochmals gedemütigt wurden.

Inhalt

1848–1933

In der Vorgeschichte holt Ingo Müller erfreulicherweise weit aus: er beginnt mit der deutschen Justiz rund um das Revolutionsjahr 1848 und zeigt, wie in den folgenden Jahrzehnten und vorallem unter Bismark die liberal-gesinnten Juristen verdrängt wurden. Durch die Besetzung hoher Richterstellen mit ehemaligen Staatsanwälten, die sich durch jahrlange Erfahrung als weisungsgebundene Ankläger als regimetreu erwiesen hatten, und ähnliche Massnahmen züchtete sich die Monarchie eine Justiz, die nicht nur die konservativen Werte verteidigte, sondern sich auch willfährig als Waffe gegen jede (politische) Opposition einsetzen lies.

Dass diese Justiz – durch und durch monarchistisch und "den alten Werten verpflichtet" – kein Freund der Weimarer Republik war, erstaunt freilich nicht. Ebenso wenig überrascht die Nähe zum rechten Spektrum und die fast durchgängige Ablehnung liberaler, sozial(istisch)er und demokratischer Gesinnung. Ganz zu schweigen von linksextremen Gedankengut. Mit den extremen Rechten "konnte" man da schon wesentlich besser. Denen unterstellte die Justiz fast durchgängig eine patriotische, ehrenhafte Gesinnung, während sie deren Gegnern niedere Motiv, Verkommenheit, ehrlose Gesinnung, ja Hochverrat in den Urteilsbegründungen bescheinigte. Entsprechend fielen die Urteile letztlich aus.

NS-Zeit

Die "Umstellung" 1933 war leichter als man allgemein vermuten möchte. Die wenigen missliebigen Richter waren rasch ersetzt und die Justiz stellte sich mit meist vorauseilendem Gehorsam auf die "neuen Herren" ein. Getreu deren Weisung wurde weniger nach dem Buchstaben der Gesetze als vielmehr nach dem "gesunden" Volksempfinden gerichtet. Die Folge waren immer unfassbarere Strafausmasse selbst bei geringfügigsten "Straftaten". Nur von einem einzigen Richter ist bekannt, dass er diese Entwicklung offiziell nicht mitmachen wollte – er wurde pensioniert (und bezog weiter sein volles Gehalt). Auch die Kapitulation des III. Reiches stoppte das Wüten der NS-Justiz nicht sofort: zahlreiche Todesurteile wurden noch nach dem 8. Mai 1945 verhängt.

Nach 1945

Aus den ursprünglichen Plänen der Siegermächte betreffend der deutschen Justiz wurde nicht viel; es waren viel zu wenige Unbescholtene zu finden. Und so waren z.B. bereits 1949 in Bayern 81% der Richter und Staatsanwälte wieder ehemalige NS-Mitglieder. Und die Ehemaligen wussten sich und Ihresgleichen bestens zu helfen. Kaum eine Untat im III. Reichen war einer gehobenen Stellung im Justizapparat hinderlich. Denn – so lautete die gängige und gerne geglaubte Erklärung – man hat ja auch damals nur die Gesetze befolgt. Was in diesem Buch von Ingo Müller deutlichst widerlegt wird.

Ebendiese Richter und Staatsanwälte verhandelten – wenn es überhaupt dazu kam – denn auch Prozesse über NS-Verbrechen und Opferentschädigungen (ausländische Prozesse und Verurteilungen wurden offiziell nicht anerkannt). Die Urteile sind wenig überraschend dafür umso beschämender. Die einzig feststellbaren Täter waren Hitler, Himmler, u.s.w. Alle anderen hatten nur »ihre Pflicht erfüllt«, waren »politisch verblendet«, schlimmstenfalls »Tatgehilfen«, aber nie Täter – selbst wenn sie eigenhändig Exekutionen ausgeführt hatten.
Beispielsweise wurde der Euthanasiearzt Dr. Borm 1970 freigesprochen: seine nachgewiesenen 6652 Tötungen bezeichnete das Gericht zwar als »heimtückisch« und »niederträchtig«, doch es glaubte Borms Aussage, die Heimtücke seines Tuns nicht erkannt zu haben; seiner Meinung nach handelte es sich stets um »Gnadentod« und »Erlösung«.

Mit wahrlich haarsträubende Erklärungen verhinderten die Gerichte hingegen zumeist die Anerkennung als NS-Opfer: so wurde die einstige Weigerung eines Sozialdemokraten, Minen zu legen, – wofür er damals verurteilt worden war – gleich doppelt verurteilt: zum einen war sein Ungehorsam nicht geeignet, »die militärische Niederringung des NS-Regimes zu fördern oder zu beschleunigen«, zum anderen hatte er damals »möglicherweise dadurch deutsche Wehrmachtsangehörige in Gefahr gebracht«. Wie das eine ohne dem anderen möglich gewesen wäre, erklärte das Gericht freilich nicht.

Auch finanziell waren die Täter weit besser gestellt als die Opfer: Die Entschädigungszahlungen der Opfer wurden nie erhöht (noch 1989 erhielt "man" für ein Jahr Konzentrationslagerhaft einmalig 1800 DM, also rund 900 Euro). Die Gehälter und Pensionen der großteils beamteten NS-Täter waren hingegen zwischen 1953 und 1989 um das Zehnfache gestiegen. Und das ist wahrlich nur ein kleiner Aspekt der Perfidie, mit der Deutschland die NS-Vergangenheit seiner Justiz "bewältigt" hat.

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