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Iphigenie
Das untote Opfer

Als sich der Heerführer der Achäer vor Troja, Agamemnon, mit Achilleus, der sich weigert an den Kämpfen teilzunehmen, wieder versöhnen will, verspricht er ihm u.a. eine seiner Töchter zur Frau zu geben. Drei hat er, Achilleus dürfte wählen: Chrysothemis, Iphianassa oder Laodike.

Hier beginnen die Probleme: üblicherweise werden die Töchter Agamemnons Iphigenie, Chrysothemis und Elektra genannt und üblicherweise sind es drei Töchter. Wegen der Namensähnlichkeit werden daher Iphigenie und Iphianassa gleichgesetzt; folglich müßte Laodike Elektra sein.
So weit, so gut. Nur zu dem Zeitpunkt, da Agamemnon dieses Angebot macht, ist Iphigenia längst tot – zumindest, wenn es nach den nachhomerischen Dichtern geht – und Agamemnon müsste dies wissen, schließlich hat er sie selbst geopfert.

Iphigenie in Aulis

Die achäischen Herrführer hatten sich und ihre riesige Flotte vor der Überfahrt nach Troja (s. Priamos und Troja) in Aulis, einer Küstenstadt in Boiotien, gesammelt. Von dort wollten sie aufbrechen, um die Troas mit Krieg zu überziehen. Doch die Winde waren ungünstig und blieben es. Endlich erklärte Kalchas, der Vogelflugdeuter und Seher, Artemis sei erzürnt und verlange von Agamemnon die Opferung seiner Tochter Iphigenie. Agamemnon fügt sich letztendlich dem Willen der Göttin und opfert seine Tochter.

Aischylos dient die Opferung Iphigenies auch als Mordmotiv für Klytaimestra. Diese erwidert nach der Tat dem Chor:

»… dem Mann [Agamemnon] du entgegenhieltest,
Der mit nicht mehr Scheu, als wär’s eines Lammes Tod
[…]
Hinopferte sein Kind, das liebste Frucht mir war
Der Wehn, um zu beschwören thrakischer Winde Sturm.« Aischylos: Agamemnon 1414ff. (Ü: Oskar Werner)

Homer erzählt davon kein Wort. Allerdings gibt es Stellen, die sich als Andeutung darauf interpretieren ließen, z.B. wenn Agamemnon zu Kalchas sagt:

»Unglücksseher, du hast mir noch nie nach dem Herzen gesprochen;
Immer ist es dir lieb, das Schlechte mir zu verkünden,
Gutes hast du noch nie gesprochen oder vollendet.
Auch jetzt unter den Danaern sprichst du von Winken der Götter,
[...]« Homer: Ilias 1,106ff.

Außer dem Vorfall in Aulis kennen wir keinen Grund, weshalb Agamemnon dermaßen schlecht auf Kalchas zu sprechen sein sollte. Wenn Homer die Geschichte von Iphigenies’ Opferung tatsächlich gekannt haben sollte und sie bloß verschweigen wollte, so würde das heißen, er verschwieg Iphigenie zur Gänze und gab Agamemnon Iphianassa als weitere Tochter hinzu. Damit hätte Agamemnon wiederum drei Töchter, die er Achilleus anbieten kann, ohne offen in den Widerspruch mit der Überlieferung zu kommen. Andererseits könnten genausogut völlig andere Differenzen zwischen Agamemnon und Kalchas in Vergessenheit geraten sein, die das homerische Publikum noch bestens im Gedächtnis hatte, spätere jedoch nicht mehr. Und diese Späteren könnten angesichts dieser (u.a.) Textstellen gefragt haben: "Ja, was meint er den bloß damit?"

Ob nun vor oder nach Homer, die Opferung der eigenen Tochter erscheint eine höchst grausame Tat, noch grausamer wirkt nur die Göttin Artemis, die dies von Agamemnon fordert. Weshalb? Der Grund für Artemis Zorn wird selten erwähnt: Agamemnon hat in einem der Artemis heiligen Hain einen Hirsch getötet (unwissentlich?) und soll dabei etwas Ungehöriges gesagt haben (Sophokles: Elektra 566ff.). Aber das ist eigentlich nebensächlich, ja nichtig – abgesehen vom Umstand, daß sich zuerst der Mensch durch irgendeine Tat ins Unrecht gesetzt hat.

Vielleicht war Euripides in seiner Tragödie Iphigenie in Aulis weit näher an der ursprünglichen Version, als es zunächst den Anschein hat. Das Stück erhält seine Dramatik aus der Frage: Wie viel ist Agamemnon bereit für den Krieg und den Sieg zu opfern? Bei Euripides – der ohnehin kein großer Freund des Krieges ist – nicht viel: es sind letztendlich die Umstände und das wartende, beutegierige Heer (unter der Führung des ränkeschmiedenden Odysseus), die Agamemnon dazu zwingen, die Opferung zu vollziehen. Aber frühere Dichter könnten anderer Meinung gewesen sein.

Iphigenie bei den Taurern

Die Geschichte von Iphigenies Opferung war gegen Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. allgemein bekannt, als sie eine kleine aber wichtige Änderung erfuhr. Denn der Geschichtsschreiber Herodot berichtet von den Taurern u.a. folgendes:

Sie opfern der Jungfrau die Schiffsbrüchigen oder die Hellenen, die sie draußen aufbringen und fangen [...]. Von dieser Gottheit, der sie opfern, sagen die Taurer selber, sie sei Iphigeneia, Agamemnons Tochter. Herodot: Historien 4,103

Euripides dürfte diesen oder einen ähnlich lautenden Bericht gehört haben, und machte sich daran, die Geschichte abzuändern. Seine Tragödie Iphigenie in Aulis endete damit, daß im letzten Moment der Opferung Agamemnons Schwert nicht Iphigenie trifft, sondern eine Hirschkuh. Artemis hatte wohl Mitleid mit dem Mädchen – ein Charakterzug, der dem modernen Bild der Götter wesentlich besser entsprach – und vertauschte es mit dem besagtem Tier; die gerettete Iphigenie versetzte sie zu den fernen Taurern (auf die Krim), wo sie als Artemispriesterin gezwungen ist, der Göttin aufgegriffene Fremde zu opfern – freilich widerwillig. Erst ihr Bruder erlöste sie von diesem Dienst (s.: Orestes).

Diese "Happy-end-Version" wurde später (vgl. Ovid, Metamorphosen 12) mindestens ebenso gerne erzählt wie die ursprünglich(er)e.

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