Die letzten Tage der Menschheit
Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, 1915–1922
Inhalt
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee —! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet! […] Extraausgabee —! Neue Freie Presse! Die Pluttat von Serajevo! Da Täta ein Serbe! — Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Vorspiel, 1)
Mit dieser Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand (am 28. Juni 1914) beginnt das Vorspiel zu Die letzten Tage der Menschheit, der Auftakt zum größten und wohl umfangreichsten Stück über den Ersten Weltkrieg (1914–1918) und den Untergang der Habsburger Monarchie in Österreich-Ungarn.
Das Werk umfasst insgesamt 220 Szenen (Vorspiel: 10 Szenen, 1. Akt: 30 Szenen, 2. Akt: 33 Szenen, 3. Akt: 46 Szenen, 4. Akt: 45 Szenen, 5. Akt: 55 Szenen, Epilog: 1 Szene). Auf Straßen, in Kaffeehäusern, Ministerien, Schlafzimmern, Schützengräben, Armee-Kommandos, Kirchen, Amtsstuben, Gerichten, Friseurläden, Bahnhöfen, … werden Unterhaltungen, Telefongespräche, Ansprachen, Vorträge, Diskussionen, Erlässe, Befehle, Pressemitteilungen, … oder einfach zufällige Begegnungen in österreichischen und deutschen Städten sowie an diversen Fronten wiedergegeben.
Über weite Strecken wirkt diese Tragödie, als wäre sie eine Komödie oder Farce. Der Humor ist ein wesentlicher Bestandteil des Stückes; er dient aber nicht dazu, dem Krieg und all seinen Folgen den Schrecken zu nehmen. Wie Kraus im Vorwort betont, verursach(t)en ihn die Akteure selbst …
…, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. […] Der Humor ist nur der Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben. […] Die Mitwelt, die geduldet hat, daß die Dinge geschehen, die hier aufgeschrieben sind, stelle das Recht, zu lachen, hinter die Pflicht zu weinen. Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe sie gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Vorwort)
Handlung
Die Handlung ist nichts weniger als der Erste Weltkrieg, der sich in Begegnungen verschiedenster Personen an verschiedenen Plätzen widerspiegelt – in der Heimat …
Der Fahrgast: Können Sie wechseln? (Reicht ihm ein Zehnkronenstück aus Gold)
Der Fiaker: Wechseln, wos? Dös nimm i net als a ganzer, dös könnt franzeisches Göld sein!
Ein Hausmeister (nähert sich): Wos? A Franzos? Ahdaschaurija. Am End gar ein Spion, dem wer mrs zagn! Von woher kummt er denn?
Der Fiaker: Von der Ostbahn!
Der Hausmeister: Aha, aus Petersburg!
Die Menge (die sich um den Wagen gesammelt hat): A Spion! A Spion! (Der Fahrgast ist im Durchhaus verschwunden.)
Der Fiaker (nachrufend): A so a notiger Beitel vardächtiga!
Die Menge: Loßts’n gehn! Mochts kane Reprassalien, dös ghört si net! Mir san net aso!
Ein Amerikaner vom Roten Kreuz (zu einem anderen): Look at the people how enthusiastic they are!
Die Menge: Zwa Engländer! Reden S’ deutsch! Gott strafe England! Hauts es! Mir san in Wean! (Die Amerikaner flüchten in ein Durchhaus.) Loßts es gehn! Mir san net aso!
Ein Türke (zu einem anderen): Regardez l’enthousiasme de tout le monde!
Die Menge: Zwa Franzosen! Reden S’ deutsch! Hauts es! Mir san in Wean!« (Die Türken flüchten in das Durchhaus.) Loßts es gehn! Mir san net aso! Dös war ja türkisch! Sechts denn net, die ham ja an Fez! Dös san Bundesgenossen! Holts es ein und singts den Prinz Eugen [das beliebte Lied war dem in den Türkenkriegen siegreichen Feldherrn gewidmet]! — Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (1,1)
… und an der Front.
Pflanzer-Baltin: Gar net ignorieren! Bei mir wird g’stürmt, da gibt‘s keine Würschtel. Morgen moch’ mr an Sturm, sonst sitz’ mr in der Scheißgassen. I bin für Sturm, möcht wissen, wozu die Leut sonst auf der Welt sind als fürn Heldentod! Sturm moch mr, Sturm moch mr — (er bekommt einen Anfall)
Auffenberg: Aber geh, aber geh — ganz deiner Ansicht. Ich war auch immer dafür, daß die Eigenen frisch draufgehn. Bin auch schon mitten drin in der Vorarbeit. I sag, nutzt’s nix, so schadt’s nix. […] — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (1,16)
Die Länge der einzelnen Szene ist höchst unterschiedlich. Einige umfassen Dutzende Seiten, andere wiederum beinhalten nur wenige Sätze – wie zum Beispiel die folgende Szene:
Während der Somme-Schlacht. Parktor vor einer Villa. Eine Kompagnie, mit todesgefaßten Mienen, marschiert vorbei, in die vordersten Gräben.
Der Kronprinz (am Parktor, Tennisanzug, winkt ihnen mit dem Rakett zu): Machts brav!
(Verwandlung) — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (3,42)
Personen
Das Personenverzeichnis enthält hunderte Sprechrollen und reicht vom "einfachen Mann" bis zu kaiserlichen Hoheiten: namhafte Befehlshaber, Offiziere, Schauspieler, Kriegsberichterstatter, Literaten, Historiker, … genauso wie namenlose Passanten, Soldaten, Väter, Mütter, Kleinkinder, Huren, Priester, Flüchtlinge, Kaffeehausbesitzer, Zeitungsausrufer, …
Vier davon kehren regelmässig wieder: Zum Einen der Optimist und der Nörgler mit ihren teilweise sehr tiefgründigen Gesprächen, die sich aus ihrer unterschiedlichen Haltung ergibt – und Karl Kraus die Möglichkeit gab, seine Meinung einzubringen.
Das zweite Paar bilden der Abonnent und der Patriot, die einander – im Gegensatz zum vorherigen Paar – ergänzen und bestätigen. Presse und Patriotismus im Einklang, ja einander aufschaukelndem Gleichklang. Ein gefährliches Ineinandergreifen. Wie gefährlich und wie nachhaltig – das hat Karl Kraus (1874–1936) zwar noch erlebt, nicht aber die vollen Konsequenzen.
Der Abonnent: Merken Sie sich ein für alle Mal. Deutschland is bekanntlich überfallen worn, schon im März 1914 waren sibirische Regimenter —
Der Patriot: Natürlich.
Der Abonnent: Deutschland war also vollständig gerüstet für einen Verteidigungskrieg, den es schon lang führen wollte, und die Entente hat schon lang einen Angriffskrieg führen wollen, für den sie aber nicht gerüstet war. — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (2,26)
Propaganda
Besondere Aufmerksamkeit hat der Publizist und Autor Karl Kraus auch jenen gewidmet, die der Heimat die Geschehnisse an den Fronten vermitteln sollten: den KriegsberichterstatterInnen. Kraus, der Zeit seines Lebens die Journaille geißelte, fand auch in den Jahren des Ersten Weltkreigs reichlichst Stoff für Kritik an seinen publizierenden "Kollegen".
Die Heeresleitungen und "die Presse" hatten wenig Erfahrung im Umgang miteinander – umso skuriler waren die ersten gemeinsamen Schritte.
Der Erste [Kriegsberichterstatter]: No ja, Erfolge wie Ganghofer [der Heimatdichter Ludwig Ganghofer war eifriger Berichterstatter] blühn für unsereins nicht. Für unsereins wird nicht eigens ein Gefecht arrangiert.
Der Zweite: Wieso, davon weiß ich gar nichts.
Der Erste: Davon wissen Sie nicht? Bei seinem letzten Besuch an der Tiroler Front! Siebzehn Eigene sind sogar durch zurückfliegende Geschoßböden getötet oder wenigstens verwundet worn, das war die größte Anerkennung der Presse, die ihr bis jetzt im Weltkrieg widerfahren is!
Der Zweite: Wieso, das is doch ein Witz aus’m Simplicissimus [bekannte Satirezeitschrift], daß sie mit der Schlacht warten, bis Ganghofer kommt.
Der Erste: Ja, zuerst war es ein Witz aus’m Simplicissimus und dann is es wahr geworn. Der Graf Walterskirchen, der Major, is auf und davongegangen, wütend. Er war kein Freund der Presse, er is nie genannt worn, vorgestern, hab ich gehört, is er gefallen. — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (1,21)
Die – vorallem für heutige BetrachterInnen – durchschaubare und laienhafte Propaganda der Mittelmächte hatte mehrere Ursachen, vorallem strikte (anerzogene) Obrigkeitshörigkeit und mangelnde Erfahrung. Das folgende Zitat (2. Akt, Anfang der 16. Szene) hat – zum einen oder anderen Anlass – ganz bestimmt in einer solchen Art statt gefunden, auch wenn es sich heute wie eine Persiflage anhört.
Ein Generalstäbler (erscheint und geht zum Telephon): Servus, also hast den Bericht über Przemysl fertig? — Noch nicht? Ah, bist nicht ausgschlafen — Geh schau dazu, sonst kommst wieder zum Mullattieren zu spät. Also hörst du — Was, hast wieder alles vergessen? — Ös seids — Hör zu, ich schärfe dir noch einmal ein — Hauptgesichtspunkte: Erstens, die Festung war eh nix wert. Das ist das Wichtigste — Wie? man kann nicht — Was? man kann nicht vergessen machen, daß die Festung seit jeher der Stolz — alles kann man vergessen machen, lieber Freund! Also hör zu, die Festung war eh nix mehr wert, lauter altes Graffelwerk — Wie? Modernste Geschütze? Ich sag dir, lauter altes Graffelwerk, verstanden? No also, gut. Zweitens, paß auf: Nicht durch Feindesgewalt, sondern durch Hunger! Verstanden? Dabei das Moment der ungenügenden Verproviantierung nicht zu stark betonen, weißt. Schlamperei, Pallawatsch etc. tunlichst verwischen. Diese Momente drängen sich auf, aber das wirst du schon treffen. Hunger ist die Hauptsache. Stolz auf Hunger, verstehst! Nicht durch Hunger, sondern durch Gewalt, ah was red ich, nicht durch Gewalt, sondern durch Hunger! No also, gut is — Was, das geht nicht? Weil man dann merkt, daß kein Proviant — […] — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (2,16)
Deutsches Reich – Österreich
Das Verhältnis zwischen den Verbündeten – der K.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich – ist ein immerwiederkehrendes Thema. "Was Deutschland und Österreich trennt, ist die gemeinsame Sprache" lautet ein bekanntes Zitat von Karl Kraus. Seit der 1866 mit Waffengewalt entschiedenen "kleindeutschen Lösung", d.h. der Einigung der deutschen Gebiete ohne die deutschsprachigen Teile Österreichs, dem Ausgleich mit Ungarn (1867) und dem von der Obrigkeit bekämpften Nationalismus der anderen Nationalitäten der Monarchie, befand sich die deutschsprachische Minderheit der Habsburger-Monarchie in einer Identitätskrise.
Der Vergleich der militärischen Erfolge des Deutschen Reiches mit jenen der – deutlich schlechter vorbereiteten – Donau-Monarchie ließ somanchen vor Neid erblassen:
Ein österreichischer General (im Kreise seiner Offiziere): […] — aber was uns fehlt, is halt doch die Organisation. Das ham die Deutschen vor uns voraus, das muß ihnen der Neid lassen. Gewiß, auch wir ham vor ihnen manches voraus, zum Beispiel das gewisse Etwas, den Schan, das Schenesequa, die Gemütlichkeit, das muß uns der Neid lassen — aber wenn wir in einer Schlamastik sind, da kommen halt die Deutschen mit ihnerer Organisation und —
Ein preußischer Leutnant (erscheint in der Tür und ruft nach hinten): Die Panjebrüder solln sich mal fein gedulden, das dicke Ende kommt nach! (stürmt in das Zimmer, ohne zu salutieren, geht geradewegs auf den General los und ruft, ihm fest ins Auge sehend:) Na sagen Se mal Exzellenz könnt ihr Österreicher denn nich von alleene mit dem ollen Uschook fertich werden? (Ab.)
Der General (der eine Weile verdutzt dagestanden ist): Ja, was war denn — nacher das? (Sich an die Umstehenden wendend) Sehen S’ meine Herrn — Schneid haben s’ und was die Hauptsach is — halt die Organisation! — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (2,27)
Das Ende
Auch wenn die Mehrzahl der Szenen beinahe parodistische Züge haben – die Auswahl der Zitate ist nicht so willkürlich, wie es diesbezüglich den Anschein haben mag –, das Grauen des Krieges nimmt adäquat zum Kriegsverlauf stetig zu. Ein (mit)bestimmendes Moment der Szenen in den Akten 4 und 5 wird die Ignoranz der zivilen und militärischen Obrigkeit gegenüber der Bedürfnissen ihrer Völker in der Heimat und an der Front.
Ein Major (zu einem anderen): [im Armeeoberkommando Frontberichte vorlesend] […] »Malariafiebernde müssen nackt warten, bis ihre Fetzten gewaschen und getrocknet sind.« Fetzen! Der Ton, den sich die Front gegen unsereinen erlaubt! Das is ja rein, als ob wir verantwortlich wären, war net schlecht! »[…] Feldwachen mit Helm und Mantel ohne Hosen kommen vor.« Noja, muß gspaßig zum Anschaun sein. »Von soldatischem Ehrgefühl kann da nicht mehr gesprochen werden, die einfache Menschenwürde ist da verletzt.« No no, soll sich nix antun. Ein Ton is das! Diese Leute an der Front begreifen weder die eisernen Kriegsnotwendigkeiten noch wie man mit dem AOK zu verkehren hat. Das is ja rein, als ob wir den Krieg angfangen hätten! — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (5, 41)
Die letzte Szene des 5. Aktes beginnt mit einem sogenannten "Liebesmahl", einem Gelage deutscher und österreichischer Offiziere, während die Front zusammenbricht, und geht über in rasch abwechselnde Erscheinungen – Bilder eines völlig "entmenschlichten" Krieges –, die an der Rückwand der Szenerie auftauchen.
Hängeallee in Neusandec. Kinder schaukeln und drehen die Leichname.
(Die Erscheinung verschwindet.)
Eine Frau, die Kartoffeln gekauft hat, wird von anderen Personen, die nichts mehr bekommen haben, erschlagen. Sie treten auf der Leiche herum.
(Die Erscheinung verschwindet.)
[…]
Trinkgelage von Offizieren. Ein Leutnant erschießt eine Kellnerin.
(Die Erscheinung verschwindet.)
Gefechtspause an der Drina. Ein serbischer Bauer holt Wasser. Gegenüber steht und zielt ein Leutnant. Er schießt ihn ab.
(Erscheinung verschwindet.) — Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (5,55)
Am Ende der Szene erscheinen den Tafelnden Gasmasken, erfrorene Soldaten, Lusitania-Kinder, … und schließlich "Der ungeborene Sohn". Der Akt endet in völliger Finsternis, dann einer Flammenwand und Todesschreien.
Der Epilog "Die letzte Nacht" ist schließlich eine einzige Szene des Weltuntergangs und endet mit
Stimme von oben: Der Sturm gelang. Die Nacht war wild.
Zerstört ist Gottes Ebenbild!
Großes Schweigen.
Die Stimme Gottes: Ich habe es nicht gewollt.
— Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Epilog)
Entstehung
Karl Kraus hat mit den ersten Szenen im Sommer 1915 begonnen. Die wesentlichen Teile des Werkes waren nach Angabe des Autors bis Juli 1917 fertiggestellt, auch der Epilog. Bereits 1913 hatte Kraus Aufsätze seiner Zeitschrift Die Fackel zu einem Buch zusammenfassen wollen: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Im Oktober 1915 gab er sein Vorhaben für Die letzten Tage der Menschheit bekannt. Einzelne Szenen wurden noch vor dem Kriegsende publiziert. Bis September 1919 erscheint die Tragödie in Sonderheften, die sogenannte Aktausgabe.
Die Buchausgabe erschien aber erst 1922, denn der Autor nahm noch zahlreiche Änderungen und Ergänzungen vor, teilweise auf Material basierend, das Kraus erst nach dem Kriegsende zur Verfügung stand.
"Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten." schrieb Kraus gleich zu Beginn seines Vorwortes. Zeit seines Lebens gab es nur Vorlesungen einzelner Szenen und Aufführungen des Epilogs (ab 1923). Die ersten szenischer Aufführungen erfolgten erst in den 1960er-Jahren.
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