Aeneis
Inhalt
Singen will ich von Kämpfen und von dem Mann, der zuerst von
Trojas Gestade, vom Schicksal verbannt, zu Laviniums Küste,
Nach Italien kam; über Wasser und Lande verschlug ihn
Göttergewalt, aus unversöhnlichem Groll der grimmen
Juno; der viel auch im Kriege erlitt, bis die Stadt er geründet,
Götter nach Latium brachte, woher das Latinergeschlecht ward,
Albas Urväter auch und du, hochragende Roma. — Vergil: Aeneis 1,1ff. (Ü: Wilhelm Plankl)
Der Titelheld Aeneas gerät mit seiner Flotte in einen schrecklichen Sturm und landet nahe Karthago (die berühmte Stadt an der afrikanischen Mittelmeerküste, im heutigen Tunesien).
Der dortigen Herrscherin (und Gründerin Karthagos) erzählt er von der Eroberung Trojas, seiner Flucht in die Berge, dem Bau der Flotte und seiner Irrfahrt mit ebendieser. Die verwitwete Dido verliebt sich in den Heimatlosen und geht mit ihm eine intensivere Beziehung ein, Aeneas kleidet sich sogar schon nach phönikischer Mode – doch die Götter haben anderes vor.
Aeneas wird aufgefordert, sich in Italien niederzulassen, der alten Heimat des trojanischen Stammvaters Dardanus. Er, der fromme Held, fügt sich dem göttlichen Willen, Dido begeht Selbstmord. Nach einem erneuten Aufenthalt in Sizilien, landet Aeneas schließlich in Latium.
Dort herrscht der König Latinus, dessen Tochter Lavinia zwar umworben aber noch nicht vergeben ist, denn ihr Vater erhielt den göttlichen Rat einen "Auswärtigen/Fremden" zum Schwiegersohn zu machen. Doch gegen den Neuankömmling, der nun die begehrte Braut heimführen soll, erhebt sich der mächtige Fürst Turnus mit zahlreichen Verbündeten. Ein schrecklicher Krieg entbrennt. Der direkte Zweikampf Aeneas – Turnus bringt die Entscheidung: Turnus fällt.
Die künftige Geburts Roms ist damit eingeleitet – gegründet wird die Stadt erst von den Aenaesnachkommen Romulus und Remus.
Die Ursache für die Länge und Spannung der Heimatsuche des Aeneas ist Hera. Ihre absolute Lieblingsstadt ist Karthago, doch als Göttin weiß sie – wie auch der Leser – um das künftige Schicksal dieser Stadt: nach drei erbitterten Kriegen wird Karthago Rom unterliegen und schließlich ausgelöscht werden. Das will sie verhindern, indem sie Rom verhindern will, und das wiederum, indem sie Aeneas möglichst von Italien (Latium) fernhält. Sie veranlaßt den Sturm, der Aeneas Flotte versenken sollte, sie bewirkt die Verbindung Aeneas–Dido, sie bringt die trojanischen Frauen dazu, auf Sizilien die Schiffe in Brand zu setzen, sie ist federführend im Krieg in Latium. Ihre große Gegenspielerin ist Aphrodite, die Mutter des Aeneas. Erst im 12. (und letzten) Gesang einigen sich die Göttinnen.
Mythos:
Geschichte des Aineias: siehe Artikel Aineias
Vergleich Aeneis – Ilias – Odyssee
Dass Homer und seine beiden berühmten Epen Ilias und Odyssee das große Vorbild Vergils waren, ist unübersehbar. Der erste Teil der Aeneis, die Gesänge 1 bis 6, sind die sogenannte "römische Odyssee", der zweite (6.-12.) die "römische Ilias". Bis ins kleinste Detail hat Vergil homerische Muster übernommen:
- Aeneas strandet nahe Karthago – Odysseus ist dies öfters passiert (ebenfalls Menelaos; der Flotte der Achäer ist es teilweise gar noch schlimmer ergangen)
- Aeneas erzählt Dido von seinen vorausgegangenen Irrfahrten [ab Verg.Aen.2] als eine Art Rückblick für den Leser/Zuhörer – in der Odyssee hat Odysseus dasselbe getan, für den Phaikaenkönig Alkinoos [ab Hom.Od.9].
Ab der Umschiffung des Peloponnes (Kap Malaia) wandelt Aeneas praktisch auf den Spuren Odysseus: Kyklopen, Sirenen, Skylla & Charybdis, Insel der Kirke. - Aeneas und Dido verlieben sich ineinander, erst die Götter beenden die "Festhaltung" des Aeneas durch die Königin. – Dies ist praktisch der Anfang der Odyssee: Odysseus wird lange Jahre von der Nymphe Kalypso auf deren Insel "festgehalten", bis Zeus ihr befiehlt, den Titelhelden freizulassen. (Bei Homer steht Odysseus Heimweh im Vordergrund; Spätere rückten – zum Teil satirisch – seine Liebe zu Kirke und Kalypso in den Mittelpunkt; immerhin haben die beiden ja auch Kinder miteinander).
- Die Wettkämpfe zu Ehren des Anchises auf Sizilien am Jahrestag seiner Bestattung [ab Verg.Aen.5]:
Schiffsrennen – Wettlauf – Faustkampf – Bogenschießen – "Troja"-Spiel (ein später traditionelles Scheingefecht von Jünglingen/Knaben zu Pferde).
Im 23. Gesang der Ilias wird die Bestattung des Patroklos ausführlich beschrieben und die Wettkämpfe, die Achilleus zu Ehren des getöteten Freundes veranstaltet:
Pferderennen – Faustkampf – Ringkampf – Wettlauf – bewaffneter Kampf – Diskoswurf – Bogenschießen – Speerwurf (nicht ausgetragen).
Weniger die Tatsache, dass Wettkämpfe zu Ehren eines Verstorbenen abgehalten werden, als vielmehr die Umstände, wie ähnlich diese verlaufen, ist hierbei bemerkenswert. Pferderennen und Schiffsrennen verlaufen ähnlich turbulent (mit jeweils einem Unfall), ebenso die beiden Wettläufe (in beiden Rennen rutscht ein Führender aus). Beim Bogenschießen ist beide Male eine festgebundene Taube das Ziel: erst wird die Schnur getroffen (Teukros/Hippokoon), mit der der Vogel festgebunden ist, dann die freifliegende Taube (Meriones/Eurytion) – nur das wundersame Zeichen, das Akestes im Anschluss daran "produziert", ist neu. - Im 6. Gesang der Aeneis betritt Aeneas die Totenwelt, die väterliche Traumgestalt hat ihn dazu aufgefordert. Odysseus tat dies im 11. Gesang der Odyssee auf der Suche nach dem Heimweg.
(Aeneas’ Besuch der Totenwelt war übrigens später das große Vorbild für Dante Alighieris Die göttliche Komödie, insbesondere die Einteilung der Unterwelt) - Wie bei den Kämpfen vor Troja, geht es bei den Kämpfe in Latium um den "Besitz" einer Frau (Helena bzw. Lavinia).
- Der Auflistung der Trojaner und ihrer Verbündeten samt deren Heerführern [Hom.Il.2] steht die Auflistung der italischen Feinde gegenüber [Verg.Aen.7]. Den berühmten "Schiffskatalog", d.h. die Auflistung der achäischen Heerführer, hat Vergil indes besonders raffiniert kopiert: er hält die Auflistung der Verbündeten des Aeneas so lange zurück, bis Aeneas mit Schiffen von der Küste Etruriens seinen belagerten Gefährten zu Hilfe eilt [10. Gesang], also zu einem Zeitpunkt, da die Schlacht längst voll im Gange ist.
- Erhält Achilleus, der große Held der Ilias, neue Waffen vom Hephaistos (röm.: Vulcanus), so schmiedet der Gott in der Aeneis diesmal welche für Aeneas. In beiden Fällen haben ihn die Mütter der Helden (Thetis bzw. Venus) darum gebeten.
- Der sogenannten "Dolonie" [Hom.Il.10], dem Kundschaftergang, bei dem die Späher Odysseus und Diomedes ein Blutbad unter den (mit Troja verbündeten) Thrakern anrichten, steht der Botengang des Nisus und des Euryalus gegenüber [Verg.Aen.9], die gleichfalls schlafende Feinde ermorden – allerdings mit einem anderen Ende.
- Auch das große Finale, der Kampf zwischen Aeneas und Turnus, hat sein homerisches Vorbild: das Finale Achilleus gegen Hektor. Die Ausführlichkeit der beiden Kämpfe versteht sich von selbst, der Verlauf dagegen ist auffällig ähnlich. In der Ilias [Hom.Il.22] jagt Achilleus seinem Gegner zunächst erfolglos hinterher, in der Aeneis Aeneas dem Turnus (der von seiner göttlichen Schwester vorm Tod beschützt wird), ehe sich Hektor bzw. Turnus besinnen (eine Frage der Ehre), sich dem Kampf stellen und unterliegen. Beide bitten sterbend die Sieger um Milde beim Umgang mit ihrem Leichnam, beide Sieger versagen ihnen diese Bitte aus Verbitterung über den Tod ihrer liebsten Gefährten (Patroklos bzw. Pallas).
Das sind einige der auffälligsten "Übereinstimmungen" zwischen der Aeneis und den Epen Homers. Nun darf man freilich nicht glauben, Vergil sei dies zufällig unterlaufen oder er habe aus Faulheit oder Unfähigkeit "abgeschrieben". Die Ilias und die Odyssee waren zu Vergils Zeiten keineswegs in Vergessenheit geraten, ganz im Gegenteil, sie erfreuten sich weiter und ungebrochen größter Beliebtheit; jeder auch nur halbwegs gebildete Mensch kannte diese - inzwischen uralten - Werke. Vergil mußte bzw. konnte damit rechnen, dass seinem Publikum die Ähnlichkeiten förmlich "ins Auge (oder besser: ins Ohr) sprangen".
Andererseits hat der Römer an zahlreichen anderen Stellen seines Werkes durchaus Einfallsreichtum und Phantasie bewiesen; er hätte die Aeneis also gewiß auch ganz anderes schreiben können, ohne sich dermaßen heftig an Homer anzulehnen. Aber offensichtlich wollte er das nicht. Im Gegenteil.
Die Ähnlichkeiten sollten beim Publikum Assoziationen zu Homer wecken, die Zuhörer/Leser sollten sich - bewusst und unbewusst - denken: "Odysseus mag gelitten haben, Aeneas aber mindestens ebensosehr; die Schlachten vor Troja mögen gewaltig gewesen sein, die in Latium stehen ihnen aber um nichts nach."
Deshalb durfte in der Aeneis Nichts von dem fehlen, was die Ilias und die Odyssee an Themen auszeichnete, soweit dies eben möglich war.
Weggelassen hat Vergil nur das, was sich beim besten Willen nicht einflechten ließ (z.B. Telemachos Suche nach dem Vater) oder was dem römischen Verständnis für Frömmigkeit, Loyalität und Ehre – kurz der römischen "virtus" eines Mannes – abträglich gewesen wäre. So wird Aineias Haus zwar nicht von Freiern besetzt gehalten, denn er hat weder Frau noch Haus, dennoch ist die Bedrohung durch Freier öfters gegenwärtig: bei Dido der zurückgewiesene Iarbas, bei Lavinia Turnus.
Aus der Ilias fehlt der Zorn des Achilleus (nach einem Streit mit Agamemnon); dem konnte und wollte Vergil aus verschiedenen Gründen kein Äquivalent verleihen. Zum einen fehlt Aeneas der große Gegenspieler, zum anderen sollte der fromme Aeneas als Titelheld den Ruhm mit niemanden teilen müssen.
Bedeutung der Aeneis
Was Rom bis zu Vergils Werk fehlte, war nicht ein Gründungsmythos oder eine Geschichte seiner ursprünglichen Abstammung, sondern ein "erhebendes Werk", ein Opus, der der Größe Roms und seiner Macht gerecht wurde und Römern wie Nicht-Römern die römischer Eigendefinition moralisch wichtigsten und besten Charakterzüge Roms deutlich macht: Frömmigkeit, persönlicher Verzicht und Unterordnung zu Gunsten der Gemeinschaft.
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