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Die Atriden: Agamemnon und Menelaos
Die Problematik um Abstammung und Thronfolge

Die Abstammung der Atriden Agamemnon und Menelaos war für alle Mythographen und Mythologen stets ein großes Problem, obwohl man auf den ersten Blick das Gegenteil annehmen möchte.

Bei Homer – und den meisten späteren Dichtern – sind Agamemnon und Menelaos Söhne des Atreus, daher: "Atriden" genannt. Wir erfahren auch von der Herkunft und Weitergabe des Szepters Agamemnons :

[...], das Zepter haltend, das mühsam Hephaistos gefertigt;
aber Hephaistos gab es dem Herrscher Zeus, dem Kroniden,
Zeus aber gab es dann dem Geleiter, dem Töter des Argos;
Hermes, der Herr, aber gab es dem Pelops, dem Rossebezwinger;
Pelops gab es dem Atreus wieder, dem Hirten der Völker.
Atreus ließ es sterbend dem herdenreichen Thyestes,
aber Thyestes ließ es zu tragen dem Agamemnon,
daß über viele Inseln er herrsche und über ganz Argos. Homer: Ilias 2,101ff.

Damit kennen wir die Thronfolge, nicht aber das verwandtschaftliche Verhältnis dieser Herrscher. Aus der Odyssee erfahren wir, dass Thyestes der Vater jenes Mannes ist, der Agamemnon bei seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg ermordet: Aigisthos. Nun stellt sich freilich die Frage, weshalb Thyestes Agamemnon und nicht seinen eigenen Sohn Aigisthos zum Nachfolger bestimmt hat.

Jahrhunderte später brachte Aischylos das Drama Agamemnon auf die Bühne – und uns Späteren ein wenig Licht in die verzwickte Familiengeschichte der Atriden.

Atreus und Thyestes

Atreus, der Vater Agamemnons, und Thyestes, der Vater Aigisthos, waren Brüder. Sie stritten sich um die Herrschaft und Atreus verjagte Thyestes. Als letzterer wieder zurückkehrte, lud ihn Atreus zum Essen ein. Was Thyestes (noch) nicht wusste, waren die Zutaten dieses perfiden Mahls. Atreus hatte die Kinder seines Bruders abgeschlachtet und (unkenntlich) zubereitet – vgl. Euripides Fragment Thyestes. Nachdem er erfährt, was er gegessen hat – nämlich seine eigenen Kinder (genauer gesagt: zwei seiner Söhne) –, verflucht Thyestes »Pelops’ Haus« und wünscht, dass »zugrundgeh ganz des Pleisthenes Geschlecht«. Dann wird er zusammen mit seinem Sohn Aigisthos (zu der Zeit noch in den Windeln) von Atreus und Agamemnon neuerlich vertrieben.

Woher der immense Haß des Atreus stammte, wird nur kurz erwähnt – Kassandra "sieht" (in der Tragödie Agamemnon) die »urerste Schuld«: jemand hat »zornwütgen Sinns [...] des Bruders Bett« bestiegen. Thyestes hat also seinen Bruder mit dessen Frau betrogen (aus Zorn darüber, dass nicht er die Herrschaft übernehmen konnte, sondern Atreus?).

Bei der Erlangung der Herrschaft in Mykene war anscheinend ein goldener Widder ausschlaggebend: der Besitz eins solch außergewöhnlichen Tiers sollte den künftigen König bestimmen, lautete eine Weissagung. Atreus hatte ein solches Tier in seinen Herden, aber Thyestes stahl es mit Hilfe Aeropes, der Frau des Atreus – siehe Euripides Fragment Die Kreterinnen –, und präsentierte sich als gottgewollter Herrscher. Die Folgen waren verblüffend: Helios (der Sonnengott) wandte seinen Wagen und kehrte um – die Sonne ging im Osten unter! Und als wäre dies nicht genug, versetzte Zeus auch noch somanches Sternbild an einen anderen Platz bzw. lenkte sie in andere Bahnen, trieb die Regenwolken nach Norden … Leider wurden diese Episoden stets nur ausschnittsweise (meist in den Chorliedern) erwähnt, das Publikum kannte die Folgen dieser kosmischen Wunder ohnehin. Ein kleiner Hinweis des Dichters genügte:

»Mord auf Mord lassen folgen im Haus das
"Mahl des Thyestes", das jeder im Munde führt,
und der Betrug Aeropes, der listigen
Kreterin gegen den Gatten. [...]« Euripides: Orestes 1006ff.

Der genaue Verlauf der darauffolgenden Ereignisse bleibt unbesungen. Atreus wurde wohl doch der neue Herrscher.

So weit, so gut. Wir wissen nun, dass Atreus und Thyestes Brüder waren, und kennen deren Söhne. Die friedliche Thronfolge von Atreus auf Thyestes und dem auf Agamemnon, die uns Homer erzählt hat, ist allerdings höchst fraglich geworden. Ist der Bruderstreit neuen Datums? Ein Name ist diesbezüglich interessant: Pelops. Er wird in diesem Drama nur ein einziges Mal erwähnt: Thyestes Fluch gilt »Pelops’ Haus«.

Pelops

Pelops’ Geschichte kennt man aus der 1. Olympischen Ode des Pindar. Der Dichter spricht sich dort gegen die üble Nachrede aus, Tantalos hätte seinen Sohn Pelops zerstückelt und den Göttern als Speise vorgesetzt. Alles bloß nachbarlicher Trasch, meint Pindar, in Wahrheit sei Pelops von Poseidon aus Liebe entführt und später zurückgegeben worden, weil Tantalos frevelte: er soll Menschen Nektar und Ambrosia, die Speisen der Götter, gegeben haben.

Pelops, so Pindar weiter, verließ daraufhin die Heimat seines Vaters in Asien und gelangte nach Griechenland, auf die – später nach ihm benannte – Peloponnes. In der dortigen Stadt Pisa, im Nordwesten der (Halb)Insel, nahe Olympia, herrschte damals Oinomaos, der alle Werber um seine Tochter Hippodameia zum Wagenrennen aufforderte, wobei es stets – nach einem unbekannten modus operandi – um einen Wettkampf auf Leben oder Tod ging. Pelops siegte und erlangte damit die Herrschaft – siehe Euripides Fragment Oinomaos.

Dieser Pelops war also ein Stammvater der Atriden. In wie weit seine eigene Geschichte – die Zerstückelung des Pelops durch Tantalos – auf den Bruderstreit zwischen Atreus und Thyestes abgefärbt hat, lässt sich nur vermuten, aber das berühmte "Thyestesmahl" – siehe Euripides Fragment Thyestes – klingt in Verbindung zu Pelops schon sehr nach einem abscheulichen Familienrezept.

Bei späteren Tragödiendichtern wird Pelops ausdrücklich als Vater des Atreus bezeichnet, sodass wir nun scheinbar einen vollständigen Stammbaum Agamemnons haben:
Tantalos – Pelops – Atreus und Thyestes – Agamemnon, Menelaos bzw. Aigisthos.

Herrschaft in Mykene

Ein kleines Problem ist noch die Frage, weshalb Atreus (und später Agamemnon) nicht Herrscher von Pisa sind, sondern am anderen Ende der Peloponnes, nämlich im Nordosten, regieren.

Die eine glaubwürdige Erklärung liefert uns der Geschichtsschreiber Thukydides :

[...] denn da Eurystheus in Attika gegen die Herakliden fiel und vor seinem Auszug Mykene und das Reich seinem Verwandten Atreus, dem Bruder seiner Mutter, anvertraut hatte (der damals gerade seinen Vater meiden mußte wegen des Mordes an Chrysippos), da hätten die Mykener [...] freiwillig den Atreus [...] zu ihrem König gemacht, und so sei Pelops’ Geschlecht gestiegen, das des Perseus gesunken. Thukydides: Peloponnesischer Krieg 1,9

Aus dem Kontext, und spätere Quellen belegen dies, wird ersichtlich, dass es sich bei Chrysippos ebenfalls um einen Sohn des Pelops gehandelt haben muss. In der (nur als Fragment erhaltenen) Euripides-Tragödie Chrysippos tötete sich der Titelheld allerdings selbst, nachdem er vom König Laios entführt worden war.

Überdies erfahren wir von einer Tochter des Pelops – eine spätere Quelle nennt sie Nikippe –, die die Mutter des Eurystheus wurde. Von Homer wissen wir, dass jene Frau Sthenelos, einen Sohn des berühmten Perseus, geheiratet hat; dort wird auch die Geburt und das Zustandekommen von Eurystheus’ Herrschaft – siehe Artikel Herakles – erzählt.

Pleisthenes

Wie schön, wäre da nicht noch ein anderer Name, den Thyestes – in der Tragödie Agamemnon – bei seiner Verfluchung nennt: Pleisthenes. Das Bedauerliche an diesem Pleisthenes ist, dass er in unseren Quellen stets nur als Stammvater der Atriden (bzw. Orestes’) erwähnt wird.

Wir kennen zwei Personen mit dem Namen Pleisthenes: der eine soll ein Sohn des Thyestes gewesen und beim "Thyestesmahl" zubereitet worden sein; der andere war ein Sohn des Atreus, wurde aber von Thyestes aufgezogen und sollte später sein Rachewerkzeug werden: Thyestes schickte ihn zu Atreus, damit er ihn tötet. Pleisthenes wird aber festgenommen und hingerichtet (oder von Atreus selbst getötet), denn Atreus glaubt, Pleisthenes sei ein Sohn des Thyestes – s. Euripides Fragment Pleisthenes.

Da diese beiden Pleisthenes nicht als "Stammvater" bezeichnet werden können, muss es einen dritten Pleisthenes gegeben haben, nachdem die beiden jüngeren wohl benannt wurden. Aber wo sollten wir ihn einreihen? Eine antike handschriftliche Erläuterung ("Scholion"; abgek.: Sch.) zu Pindars 1. Olympischen Ode erklärt Pleisthenes zu einem Bruder des Atreus, zwei andere widersprechen dem: Pleisthenes sei ein Sohn des Atreus und der Vater von Agamemnon und Menelaos gewesen.

Im ersten Fall (Sch.Pind.O.1,144) wäre die Verfluchung Thyestes’ – »zugrundgeh ganz des Pleisthenes Geschlecht« – reichlich seltsam: Warum sollte Thyestes seinen unbeteiligten Bruder Pleisthenes und dessen Nachkommen verfluchen, wenn er ganz genau weiss, dass sein anderer Bruder, Atreus, Urheber des "Thyestesmahls" gewesen ist?

Die zweite Möglichkeit (Sch.Eur.Or.4 bzw. Sch.Hom.Il.2,105) ist noch unwahrscheinlicher, steht sie doch im krassen Widerspruch zur gängigen Überlieferung, Atreus sei der Vater der Atriden Agamemnon und Menelaos, und die Verfluchung des Pleisthenesstamms wäre noch fragwürdiger: Warum sollte Thyestes den Übeltäter Atreus von seinem Fluch aussparen und erst mit dessen Sohn Pleisthenes beginnen?

Folglich muss Aischylos an einen anderen Pleisthenes gedacht haben, einen der Vorväter des Agamemnon; vielleicht hielt Aischyos Pleisthenes für den (richtigen?) Vater des Atreus? Es ist durchaus nicht undenkbar, dass Thyestes – überwältigt vom Grauen des "Thyestesmahls" und eingedenks seiner eigenen Intrigen und Untaten – auch seine eigene Familie in den Fluch miteinbezieht, ja sogar sich selbst. Angesichts der unzähligen Verbrechen, die das Brüderpaar und deren Nachkommen aneinander verübt haben – Diebstahl, Ehebruch, Verrat, Mord, … –, wäre es sogar logisch. Schließlich spricht ja nicht Aigisthos (der davon erzählt) oder Thyestes selbst, sondern der Dichter Aischylos. Der Fluch ist deshalb nicht zukunftsweisend zu verstehen – nach dem Motto: Du wirst schon noch sehen, was dir das einbringt. –, vielmehr ist er eine Feststellung: eine Familie, die zu solchen Gewalttaten fähig ist und sie auch ausführt, kann nur verflucht sein und es wäre besser, der ganze Stamm ginge nun zugrunde, damit nicht noch mehr passiert oder anderen als Beispiel dient.

Wie dem auch sei, Pleisthenes war offensichtlich ein bekannter Name, bekannt als Mitglied der Familie Agamemnons, bloß sein Platz im Stammbaum war und ist nicht eindeutig geklärt.

Wie verworren die Geschichte der Atriden im Laufe der Jahrhunderte wurde, zeigt auch ein anderes Beispiel: Kommen wir nochmals auf jenen Pleisthenes zurück, der ein Sohn des Atreus war, jedoch glaubte, ein Sohn des Thyestes zu sein, und Atreus töten sollte. Eine fast idente Geschichte wurde von Aigisthos erzählt: Thyestes soll eine Tochter namens Pelopeia gehabt haben. Nach dem "Thyestesmahl" – siehe Euripides Fragment Thyestes – soll er sie unerkannt vergewaltigt und so Aigisthos gezeugt haben. Pelopeia heiratete kurz darauf Atreus, der ihre Abstammung nicht kannte. Nach der Geburt setzte sie Aigisthos aus, aber Atreus ließ seinen vermeindlichen Sohn ausforschen und zog ihn auf. Als Agamemnon und Menelaos den flüchtigen Thyestes zu fassen bekamen, schickte Atreus Aigisthos zu ihm mit dem Befehl diesen zu töten. Doch Vater und Sohn erkannten einander am Schwert, das Pelopeia Thyestes bei der Vergewaltigung abgenommen und später Aigisthos gegeben hatte, und Aigisthos tötete stattdessen Atreus.

Der Grund für diese widersprüchlichen und wiederkehrenden Geschichten ist, dass einzelne Personen bloß in einzelnen Lebensabschnitten oder mit einzelnen Taten Berühmtheit erlangten. Atreus und Thyestes waren bekannt für ihren Streit um die Herrschaft und fürs "Thyestesmahl", ihre übrige Biographie war nebensächlich und wurde offensichtlich in sehr unterschiedlichen Versionen erzählt, wobei sich keine davon richtig durchsetzen konnte.
Wenn spätere Mythographen wie Hyginus dann eine Kurzbiographie niederschrieben, waren sie meist bemüht sämtliche kursierende Geschichten zu berücksichtigen und soweit wie möglich miteinander in Einklang zu bringen, wobei manch ältere Erwähnung – z.B. die Thronfolge von Mykene aus der Ilias – weggelassen werden mußte. Nicht der Ablauf, sondern einzelne, herausragende Geschehnisse standen im Rampenlicht. Wie geht/ging ein Mensch mit dieser oder jener Situation um? – das war die Kernfrage. Seine Vergangenheit bildet zwar den Hintergrund und das zukünftige Spätere zeigt die Konsequenzen der Entscheidung, beides, Vergangenheit und Zukunft, bleibt aber sehr allgemeingehalten.
So ist im Falle Orestes’, dem Sohn des Agamemnon, bloß der Racheakt, die Bestrafung (in Form der Verfolgung durch die Erinnyen) und der Freispruch von Bedeutung. Sein späteres Leben und Ableben sind nebensächlich: er wurde eben Herrscher über Mykene.

Die Mythologie wurde zu einem großen Teil als Paradeplatz für Verhaltensregeln genutzt. Die jeweilige Person tritt in den Hintergrund, ihr Verhalten und die daraus resultierenden Konsequenzen hingegen in den Vordergrund. Dass Tantalos gegen die Götter frevelte und dafür bestraft wurde, ist weit weniger bedeutsam als der Umstand, dass Frevler bestraft werden – gleich ob zu Lebzeiten oder im Jenseits.

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